Photovoice ist eine partizipative Forschungsmethode

Partizipative Forschungsansätze zielen darauf ab, soziale Wirklichkeit partnerschaftlich zu erforschen und zu beeinflussen. Partizipative Forschungsansätze zeichnen sich dadurch aus, dass gesellschaftliche Akteure als Co-Forscher:innen beteiligt werden sowie durch Maßnahmen zur individuellen und kollektiven Selbstbefähigung und Ermächtigung (Empowerment). Partizipative Forschung ist wertebasiert: Soziale Gerechtigkeit, Umweltgerechtigkeit, Menschenrechte, die Förderung von Demokratie und andere Werteorientierungen sind treibende Kräfte (von Unger, 2014). Wir setzen uns mit unseren Projekten für Demokratie und Diversität ein indem wir die Repräsentation, Selbstbestimmung und Mitbestimmung von benachteiligte Bevölkerungsgruppen fördern.

Photovoice verfolgt einen fotojournalistischen Ansatz. Teilnehmende dokumentieren und analysieren anhand von selbst aufgenommenen Fotos und in Gruppendiskussionen ihr alltägliches Leben und publizieren dann die Ergebnisse mit dem Ziel, gesellschaftliche Partizipation zu erhöhen (Wang & Burris, 1997).

Über Fotos und Narrationen können sich Teilnehmende gesellschaftliche Realität aneignen, bearbeiten und eigenen Positionen zu Politik und aktuellen gesellschaftlichen Problemen Ausdruck verleihen beziehungsweise eigenen Bedürfnissen Sichtbarkeit verschaffen. Für Außenstehende kann sich über ihre Fotos und Narrationen das Verständnis für ihre spezielle Lebenssituation erhöhen. Identitätsbildungs-­ und Emanzipationsprozesse können in Gang gesetzt werden und die Handlungsspielräume können erweitert werden.

Die Methode Photovoice wurde erstmals in den frühen 1990er Jahren von Forscher:innen verwendet. Sie erforschten damals das Gesundheitsverhalten im ländlichen China. Sie beschrieben Photovoice als den Prozess, bei dem Teilnehmende ihre Community durch eine spezielle Fototechnik identifizieren, repräsentieren und verbessern können. Das Akronym VOICE steht für Voicing Our Individual and Collective Experience

Mit Photovoice werden drei Hauptziele verfolgt:

  • Stärken und Anliegen einer Gemeinschaft erfassen und reflektieren,
  • kritischen Dialog und das Wissen über wichtige Themen durch Gruppendiskussion fördern und
  • Politik zu erreichen.

Photovoice besteht aus fünf Schritten:

  1. Einem Photovoice Workshop um die Methode kennenzulernen.
  2. Der fotografischen Dokumentation von Stärken und Schwächen der Community. Spezifisch für Photovoice ist, dass Betroffene diese Fotos selbst aufnehmen.
  3. Einer Gruppendiskussion, in der die Fotos und dazugehörige Narrative partizipativ analysiert werden. Das heisst, dass die passendsten Fotos und Narrative ausgewählt werden, ähnliche Inhalte zusammengefasst und dann zentrale Themen und Anliegen der Community formuliert werden.
  4. Diese Ergebnisse werden präsentiert und mit Communityangehörigen, Multiplikator:innen und Schlüsselpersonen diskutiert.
  5. Durch die Verbreitung der Ergebnisse werden Verbesserungen in der sozialen und gesellschaftliche Teilhabe der Community erwirkt.

Ethische Grundsätze bei Photovoice sind: Sicherheit und Wohlbefinden, Wertschätzung und Respekts, Wahrung der Privatsphäre, der Rechte Dritter und des Urheberrechts.

Die partizipative Analyse wird häufig mit der SWOWeD-Technik moderiert (Shaffer, 1983): 

  • Was ist auf dem Foto zu sehen?
  • Was ist die Geschichte hinter dem Bild?
  • Wie wirkt sich das auf unser Leben aus?
  • Warum tritt dieses Problem oder diese Stärke auf? 
  • Was können wir dagegen tun? 

Wang und Burris benannten drei theoretische Quellen für die Entwicklung der Methode: Erstens die Theorie der Bildung von kritischem Bewusstsein (Freire, 1970, 1973). Freire entwickelte aus den alltäglichen Lebenserfahrungen seiner Schüler Wortlisten für Alphabetisierungskurse. Über kritischen Dialog identifizierten sie gemeinsame, übergeordnete Themen. Freire betonte die Bedeutung des kollektiven Wissens bei der Aufdeckung von persönlichen und gesellschaftspolitische Problemen. Zweitens basiert Photovoice auf feministischen Ansätzen (Maguire, 1987). Benachteilige Personengruppen sollen gesellschaftlich sichtbarer gemacht werden und ihr politischer Einfluss erhöht werden. Drittens basiert Photovoice auf Dokumentarphotographie. Beispielsweise beauftragte Roy Stryker (1967) ein Fotografenteam, um die Beziehung zwischen ländlicher Armut, unsachgemäßer Bodennutzung einerseits und dem Wachstum und Verfall der Städte andererseits zu dokumentieren. 

Bei dem Einsatz von Photovoice sollten Herausforderungen und mögliche negative Effekte beachtet werden. Soziale Probleme könnten fixiert statt geändert werden, die resultierenden Daten können sehr komplex sein, die Untersuchungsgruppe kann das Eindringen in ihr Leben als unerwünscht erleben, sich ausspioniert fühlen und unkooperativ reagieren. Audioaufnahmen der Gruppendiskussionen können Nachteile wie Misstrauen gegenüber der akademischen Forschung oder Angst vor politischer Verfolgung verursachen und damit die Qualität der Gespräche begrenzen. Zudem kann ein Photovoiceprozess sehr ressourcenintensiv sein (Foster-Fishman, Nowell, Deacon, Nievar, & McCann, 2005; von Unger, 2014).


Foster-Fishman, P., Nowell, B., Deacon, Z., Nievar, M. A., & McCann, P. (2005). Using methods that matter: The impact of reflection, dialogue, and voice. American Journal of Community Psychology, 36, 275-291. doi: 10.1007/s10464-005-8626-y

Freire, P. (1970). Pedagogy of the oppressed. New York: Continuum.

Freire, P. (1973). Education for critical consciousness. Continuum book. New York: Seabury Press.

Maguire, P. (1987). Doing participatory research: feminist approach. University of Massachusetts, Amherst.

Shaffer, R. (1983). Beyond the dispensary. Nairobi: AMREF (The African Medical and Research Foundation).

Stryker, R. (1967). Documentary photography. In W. D. Morgan (Ed.), The encyclopedia of photography, 7 (1178-1183). New York: Greystone Press.

von Unger, H. (2014). Partizipative Forschung: Einführung in die Forschungspraxis. Wiesbaden: Springer VS.

Wang, C., & Burris, M. A. (1994). Empowerment through photo novella: Portraits of participation. Health Education Quarterly, 21(2), 171–186. https://doi.org/10.1177/109019819402100204

Wang, C., & Burris, M. A. (1997). Photovoice: concept, methodology, and use for participatory needs assessment. Health Education & Behavior, 24(3), 369–387. doi: 10.1177/109019819702400309